Hunderte Flüchtende ertranken vergangenen Juni vor der griechischen Küste. Obwohl die Verantwortung der Behörden dokumentiert ist, müssen sich neun Überlebende kommende Woche für die Schiffskatastrophe vor Gericht verantworten.
*Erstmals veröffentlicht auf WOZ
Von Anna Jikhareva
Es ist 2.06 Uhr, als die Odyssee der «Adriana» achtzig Kilometer von der griechischen Hafenstadt Pylos entfernt ein tragisches Ende nimmt. Hunderte Passagier:innen des heillos überfüllten Fischkutters ertrinken, darunter viele Frauen und Kinder; nur 82 werden tot aus den Fluten geborgen. Der Schiffbruch vom 14. Juni 2023 ist nicht nur eine der tödlichsten Tragödien im Mittelmeer in den letzten Jahrzehnten. Es ist auch eine, die nach allem, was man weiss, hätte verhindert werden können.
Von den über 700 Flüchtenden an Bord haben 104 die Katastrophe im Ionischen Meer überlebt. Neun davon werden am Tag nach ihrer Ankunft an Land verhaftet, einige müssen direkt vom Spital zum Verhör. Die Staatsanwaltschaft wirft den Männern aus Ägypten diverse Vergehen vor – von der «Beihilfe zur illegalen Einreise» über die Verursachung des Schiffbruchs bis zur «Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung» und der illegalen Einreise.
Kommenden Dienstag soll in Kalamata auf dem Peloponnes der Prozess gegen die «Pylos 9» stattfinden – sofern er nicht in letzter Minute verschoben wird. Bei einer Verurteilung drohen den Angeklagten mehrfach lebenslängliche Haftstrafen. Das Verfahren ist ein Paradebeispiel für die Kriminalisierung flüchtender Menschen als «Schlepper» – eine Praxis, die in den letzten Jahren immer mehr zugenommen hat. Ein Beispiel aber auch für die Gewalt des europäischen Grenzregimes.
«Die Ägäis ist praktsich dicht»
Einer, der zur Verantwortung für den Tod so vieler Menschen einiges zu sagen hat, weil er die letzten Stunden der «Adriana» genau kennt, ist Stefanos Levidis. Der Grieche ist Mitglied des Berliner Recherchekollektivs Forensis, das dort genau hinschaut, wo andere etwas verstecken wollen. Gemeinsam mit Journalist:innen internationaler Medien hat Forensis Trackingdaten, Satellitenbilder, Logbucheinträge und Luftaufnahmen ausgewertet und Gespräche mit Überlebenden geführt. Daraus entstanden ist eine akribische Rekonstruktion der Katastrophe. «Der Schiffbruch von Pylos ist eine direkte Folge des europäischen Grenzmanagements», fasst Levidis die politischen Schlüsse aus der Recherche eines Nachmittags im Zoom-Call zusammen.
Am 7. Juni nimmt die «Adriana» von der ostlibyschen Stadt Tobruk aus Kurs auf die italienische Küste – obwohl es deutlich nähere Anlaufstellen gäbe, die Insel Kreta etwa ist bloss 360 Kilometer entfernt. «Die Menschen sind gezwungen, sich auf längere, gefährlichere Routen zu begeben, weil die Ägäis praktisch dicht ist», sagt Levidis. Er verweist auf die von Forensis und vielen anderen Menschenrechtler:innen vielfach dokumentierte illegale Pushbackpraxis der griechischen Behörden: Sie überlassen Geflüchtete auf im Meer treibenden Plattformen oder unmotorisierten Booten sich selbst oder schieben sie über die Grenze ab, ohne ihre Asylanträge zu prüfen. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das Vorgehen gerügt: 2022 verurteilte er Griechenland in einem wegweisenden Urteil für den Tod von Geflüchteten bei einer Pushbackoperation.
Die europäische Flüchtlingspolitik, deren Vertreter:innen dafür sorgen, dass sich Menschen in überfüllte Boote setzen, das ist der grössere Kontext, in dem die Schiffskatastrophe von Pylos zu sehen ist. Doch es gibt auch eine direkte Verantwortung – auch das haben Levidis und sein Team dokumentiert.
Demnach hat die griechische Küstenwache dem in Seenot geratenen Boot nicht bloss die Hilfe verweigert; mit dem Versuch, ein Abschleppseil an Bord zu befestigen, um die «Adriana» in italienische Gewässer und damit aus der eigenen «Such- und Rettungszone» herauszuziehen, soll sie den Kutter überhaupt erst zum Kentern gebracht haben. «Das vielleicht Unmenschlichste an der ganzen Geschichte ist, dass die Küstenwache dann trotz ihrer Verantwortung für das Kentern erst mal über eine halbe Stunde wartete, bis sie mit der Rettung begann», sagt Spyros Galinos von «Free Pylos 9», einer Unterstützungskampagne für die Angeklagten. «Statt zu helfen, sahen sie den Menschen beim Ertrinken zu.»
Die Küstenwache hat die Vorwürfe stets zurückgewiesen. Dabei haben inzwischen nicht nur diverse Untersuchungen, darunter eine des Europäischen Bürgerbeauftragten, viele davon bestätigt; nach und nach förderten auch Medienberichte immer neue Horrordetails ans Licht. «Aus der Luft und vom Meer aus, mithilfe von Radar, Telefon und Funk beobachteten und hörten die Beamten dreizehn Stunden lang, wie das Schiff Adriana den Antrieb verlor und dann ziellos vor der griechischen Küste trieb, eine sich langsam entwickelnde humanitäre Katastrophe», schrieb etwa die «New York Times».
Die Anklage gegen die Pylos 9 stützt sich indes auf Aussagen von Überlebenden, wonach die Ägypter Aufgaben an Bord übernommen haben sollen, etwa das Verteilen von Wasser. Aktivist Galinos zufolge war die Ermittlung von Anfang an höchst problematisch: «Die gleiche Küstenwache, die für den Schiffbruch verantwortlich war, führte auch die Befragungen durch», kritisiert er. Für den griechischen Staat sei es ein wichtiger Fall: Statt die Vergehen und Unterlassungen der Küstenwache zu untersuchen, wolle man die Schuld den Pylos 9 in die Schuhe schieben.
Für ein Leben in Würde
Eleni Spathana kämpft derweil dafür, dass die Handlungen der Küstenwache nicht ungesühnt bleiben. Gemeinsam mit vier anderen Organisationen hat die Anwältin von Refugee Support Aegean im September beim Marinegericht in Piräus die ersten von insgesamt 53 Strafanzeigen gegen sie eingereicht. «Die Überlebenden, die wir vertreten, fordern Gerechtigkeit, nämlich dass die für den Schiffbruch und den Tod Hunderter Menschen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden», sagt sie. Die Frage nach der Verantwortung verbinde ihren Fall auch mit dem Prozess in Kalamata. Besonders skandalös findet Spathana, dass die Küstenwache so lange keine Rettungsoperation eingeleitet habe. Derzeit liegt die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft; eine Entscheidung, ob sich das Gericht des Falles annimmt, ist nicht vor dem Sommer zu erwarten.
Der anstehende Prozess lässt sich am besten im Kontext einer Praxis begreifen, die aus Griechenland und anderen EU-Ländern bekannt ist: Immer mehr Flüchtende werden in rechtsstaatlich häufig fragwürdigen Schnellverfahren als «Schmuggler» verurteilt. Allein in Griechenland wurden im Jahr 2022 gemäss einer Studie von Borderline Europe 1374 Menschen unter dem Vorwurf des Schmuggels verhaftet. Die Studie hat Dutzende griechische Schleppereiprozesse untersucht: Durchschnittlich dauere ein Verfahren knapp eine halbe Stunde, die verhängte Haftstrafe betrage im Mittel 46 Jahre.
«Schutzbedürftige und verzweifelte Menschen, die ihr Leben auf einem Schiff riskieren, weil Europa auf legalem Weg nicht erreichbar ist, werden wie Kriminelle behandelt und riskieren Haftstrafen von mehreren Hundert Jahren», kritisiert Juristin Spathana. Oft erhielten die Angeklagten weder juristische Unterstützung noch grundlegende Dinge wie eine Übersetzung. Eine der grossen Fragen rund um den Prozess sei deshalb, ob dieser fair verlaufen werde.
Grundsätzliche Kritik übt auch Maro Lazarou, Aktivistin beim Alarmphone, das Notrufe von Flüchtenden entgegennimmt. Vertreter:innen der Initiative waren es, die die zuständigen Behörden über die Seenot der «Adriana» informierten. «Die Küstenwache sagte uns, das Boot wolle keine Hilfe», erzählt Lazarou. Dabei sei es gerade umgekehrt gewesen: Mehrfach hätten die Passagier:innen um Unterstützung gebeten. Als sie am Abend des 13. Juni schlafen gegangen sei, habe sie Schlimmes geahnt. «Wir haben in den letzten Jahren eine stetige Zunahme staatlicher Gewalt gegenüber Geflüchteten beobachtet – es war also nur eine Frage der Zeit, bis eine solche Katastrophe passiert.»
Die Unterstützer:innen der Pylos 9 fordern nicht nur einen Freispruch für die Angeklagten, sondern auch eine Aufarbeitung. «Die systematische Gewalt an Europas Aussengrenzen lässt sich nur stoppen, wenn die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden», sagt Spyros Galinos. Stefanos Levidis von Forensis wird im Prozess als Sachverständiger aussagen. Auf die Frage, wie Gerechtigkeit für ihn aussehen könnte, nennt er auch Reparationszahlungen an die Opfer, «damit sie ihr Leben in Würde fortsetzen können».
Einige der Überlebenden sind inzwischen in andere Länder weitergereist, die verbliebenen ersuchten in Griechenland um Asyl. Mehrere von ihnen haben bereits einen negativen Bescheid erhalten.