Es wurde schon viel über die Verweigerung der Rettung, die Fahrlässigkeit und die lebensbedrohlichen Handlungen der griechischen Küstenwache, während des Staatsverbrechens von Pylos, geschrieben. Mehr als 600 Menschen ertranken aufgrund der direkten Handlungen und Unterlassungen der verantwortlichen Akteure des griechischen Staates. Das Schiffsunglück von Pylos ist eines der tödlichsten in der zeitgenössischen Geschichte des Mittelmeers und der tödlichste Vorfall, der direkt durch die Handlungen eines staatlichen Akteurs verursacht wurde, seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa in Zeiten des „Friedens“. Es ist offensichtlich, dass die verantwortlichen Stellen des griechischen Staates zur Rechenschaft gezogen werden müssen, allerdings müssen auch die Handlungen der europäischen Behörden und insbesondere die Beteiligung von Frontex an diesem Staatsverbrechen untersucht – und die Verantwortlichen für ihre Handlungen und Unterlassungen verantwortlich gemacht werden.
Nach dem Schiffbruch versuchte Frontex, sich von den Handlungen der griechischen Küstenwache zu distanzieren, indem sie (a) die ausschließliche Verantwortung der griechischen Behörden für die Durchführung von Such- und Rettungs (SAR) -aktionen in der griechischen SAR-Zone geltend machte und (b) versuchte, die Handlungen von Frontex während des Vorfalls zu rechtfertigen. Frontex wurde am 13. Juni um 08:01 Uhr (UTC) von der italienischen Koordinierungsstelle für Seenotrettung zusammen mit der Gemeinsamen Rettungsleitstelle von Piräus, Malta und der Marineoperation der Europäischen Union im Mittelmeer über die Existenz eines Bootes in Seenot informiert. Frontex stellte sein Überwachungsflugzeug Eagle 1 zur Verfügung, das im Rahmen der gemeinsamen Operation Themis in dem Gebiet eingesetzt wurde. Dieses sichtete den Trawler Al Mutawakkil (der in der internationalen Presse fälschlicherweise als Adriana bezeichnet wurde) um 09:47 Uhr (UTC).
Die von Frontex selbst aufgezeichneten Aufnahmen der Al Mutawakkil waren eindeutig: Das Schiff war seeuntüchtig, stark überfüllt, fuhr unter keiner Flagge eines Staates und hatte keinerlei Rettungsausrüstung an Bord. Zusammen mit den Informationen, die das Frontex-Hauptquartier in Warschau erreicht hatten, dass sich (vor dem Schiffbruch) Tote an Bord befanden und dass sich Menschen an Bord an zivilgesellschaftliche Organisationen gewandt hatten, um um Rettung zu bitten, hätte dies ausreichen müssen, um eine unzweifelhaft akute Notsituation zu erkennen und zu melden. Die Verantwortlichen in der Einsatzkette von Frontex beschlossen jedoch, diesen Fall nicht als den eines Schiffes in Seenot zu behandeln, und übermittelte den griechischen Behörden lediglich das Filmmaterial der Al Mutawakkil, womit sie ihrer Verantwortung, einen Notruf abzusetzen, nicht nachkam. Diese Kette von Entscheidungen, die laut einer Untersuchung des Europäischen Bürgerbeauftragten nach dem Schiffsunglück mit den operativen Leitlinien[1]von Frontex in Einklang zu stehen scheint, stellt die Wirksamkeit eben dieser Leitlinien und ihre Vereinbarkeit mit den völkerrechtlich verankerten Such- und Rettungspflichten in Frage. Der Vorgang zeigt eine klare politische Haltung, nämlich die Migrant*innen an Bord so zu behandeln, als ob ihr Leben zweitrangig wäre. Es liegt auf der Hand, dass eine zügige und sichere Rettungsaktion eingeleitet worden wäre, wenn es sich bei dem in Not geratenen Schiff um ein Kreuzfahrtschiff oder eine Luxusyacht gehandelt hätte. Solche entmenschlichenden Unterscheidungen zwischen dem Wert des einen-, oder des anderen Menschenleben haben eine lange Geschichte und haben zu vielen Tragödien vor und nach dem „Pylos-Schiffbruch“ geführt.
Frontex erklärt, dass man zu zwei verschiedenen Zeitpunkten versucht habe, die griechischen Behörden zu unterstützen, indem man anbot, verfügbare Fluggeräte an den Ort des Geschehens umzuleiten, jedoch keine Antwort von griechischer Seite erhielt. Die verspätete Reaktion der griechischen Behörden auf das in Seenot geratene Schiff hätte für Frontex Grund genug sein müssen, vor Ort einzugreifen. Frontex war wiederholt von zivilen Organisationen über die lebensbedrohliche, tragische Situation an Bord informiert worden.
Das Angebot von Frontex, die Bemühungen der griechischen Küstenwache zu verstärken, kam jedoch ganze 6,5 Stunden nach dem ersten Kontakt mit dem Boot und wurde trotz wiederholter Warnungen abgelehnt. Die Entscheidung der griechischen Behörden, nicht auf die von Frontex angebotene Hilfe zu reagieren, entbindet die Agentur nicht von ihrer eigenen formalen Verpflichtung, die Situation neu zu bewerten. Im Gegenteil, die Verzögerungen und die mangelnde Reaktionsfähigkeit der griechischen Küstenwache hätten für die Agentur ein klarer Hinweis sein müssen, dass ein verstärktes Eingreifen und eine genauere Prüfung erforderlich war. Zumal das von Frontex selbst aufgezeichnete Filmmaterial und die Informationen, die man aus anderen Quellen erhielt, die Seeuntüchtigkeit des Schiffes und die Risiken für die Sicherheit und das Leben der Menschen an Bord unzweifelhaft deutlich machten.
Die systematischen rechtswidrigen Praktiken der griechischen Küstenwache sind seit langem dokumentiert: Die Verzögerung und Verweigerung von Rettungsmaßnahmen, die Angriffe und das Zurückdrängen von Migrant*innen auf Booten, der zunehmende Einsatz von Waffen und das Töten von Menschen, die versuchen, das Meer zu überqueren. Alles ohne jegliche Achtung des Völker- und Seerechts oder des Schutzes der grundlegenden Menschenrechte und des Lebens. Angesichts der Beweise für diese Vorgehensweise hätte Frontex die Beteuerungen der griechischen Küstenwache, dass sie eingreifen und die Verantwortung für die Suche und Rettung übernehmen würde, nicht für bare Münze nehmen dürfen. Vielmehr hätte Frontex berechtigte Zweifel an der Aufrichtigkeit der griechischen Küstenwache haben müssen, was die Bemühungen den Menschen in Not, in diesem Fall denen an Bord des Schiffes Al Mutawakkil, zu helfen anbelangt. Die Entscheidungen von Frontex, (a) den Fall nicht als Notlage zu registrieren, (b) keinen Notruf abzusetzen und (c) ihre Mittel aus dem Gebiet abzuziehen, bedeuteten in der Praxis, dass man es den griechischen Behörden ermöglichte, ihr Eingreifen erheblich zu verzögern und eine weitere illegale Operation durchzuführen, ganz wie die gefährlichen Operationen und systematischen Zurückschiebungen von Menschen aus griechischen in türkische Gewässer. Dies war nicht das erste Mal, dass Frontex so vorgegangen ist. Frontex beordert seine Beamten und Mitarbeiter häufig von Orten ab, an denen sie die griechische Küstenwache bei illegalen Push-Backs aus erster Hand erleben würden, wie im Bericht des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) über das Fehlverhalten mehrerer von der Agentur beschäftigter Personen im Zusammenhang mit den operativen Tätigkeiten von Frontex in Griechenland im Jahr 2020[2] festgestellt wurde.
Es ließe sich noch viel mehr über die Entwicklung der Rolle von Frontex bei der Grenzgewalt in Europa sagen. Die Umbenennung in „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache“ im Jahr 2016 scheint ihren Wandel von einer Einrichtung, deren einzige Aufgabe darin bestand, die Außengrenzen der EU zu sichern, zu einer Agentur, zu deren Kernaufgaben die Suche und Rettung von Personen gehört anzudeuten. Doch statt sich an Such- und Rettungsoperationen zu beteiligen, agiert Frontex in der Praxis als uniformierte, militarisierte Einrichtung der Festung Europa. Frontex hat nichts getan, um zu verhindern, dass seit 2014[3] mehr als 31.000 Menschen in den Gewässern des Mittelmeers starben oder verschwanden. Die zahlreichen Berichte, die Fehlverhalten und Menschenrechtsverletzungen bei Frontex-Einsätzen aufzeigen, haben bisher ebenso wenig Wirkung gezeigt[4] wie politische Empfehlungen zur Änderung der Praktiken von Frontex im Sinne der Menschenrechte. Frontex spielt weiterhin eine Schlüsselrolle bei der systematischen und zunehmenden Kriminalisierung, Entmenschlichung und Gefährdung von Menschen auf der Flucht. Die enorme Aufstockung des Frontex-Budgets bringt es auf eine Summe von mehr als einer Milliarde Euro[5] ; die Ausgaben von Frontex werden ausschließlich für Überwachungs- und Kontrollmittel und nicht für Such- und Rettungsausrüstung verwendet. Frontex ist der Schlüssel zum industriellen Grenzkomplex, der von der milliardenschweren Waffen- und Sicherheitsindustrie vorangetrieben und durch einen politischen Diskurs gerechtfertigt wird, der Angst und Spaltung schürt und der nicht nur in den von der extremen Rechten dominierten Parlamenten, sondern inzwischen auch unter den europäischen Bürgern vorherrscht.
Ein Jahr ist seit der Entscheidung des Europäischen Bürgerbeauftragten nach den tödlichen Schiffsunglücken bei Pylos und Crotone vergangen. Diese Entscheidung forderte notwendige Änderungen im Verhaltenskodex von Frontex bei der Bewältigung von Notfällen auf See und bei gemeinsamen Operationen mit den Mitgliedstaaten. Bis heute gibt es jedoch keine Anzeichen dafür, dass diese Empfehlungen von Frontex angenommen wurden. Nach der jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in der eindeutig festgestellt wird, dass die griechischen Behörden systematisch illegale Push-Backs durchführen)[6], sollte Frontex seine gemeinsamen Operationen mit dem griechischen Staat im Einklang mit Artikel 46 der Verordnung 2019/1896 unverzüglich beenden.
Darüber hinaus sollten die laufenden strafrechtlichen Ermittlungen gegen die griechischen Behörden im Zusammenhang mit dem Schiffbruch von Pylos ausgeweitet werden, um jede direkte oder indirekte Mitverantwortung der an der Einsatzkette Beteiligten zu ermitteln, einschließlich derjenigen, die für die Koordinierung der gemeinsamen Einsätze zuständig sind. Wir fordern eine gründliche Untersuchung der Handlungen und Verantwortlichkeiten aller Akteure, die an dem Staatsverbrechen von Pylos beteiligt waren. Das muss Frontex einschliessen! Alle Verantwortlichen sollten zur Rechenschaft gezogen werden.
Wir fordern Gerechtigkeit für die Überlebenden und die Erinnerung derer, die das tödliche Staatsverbrechen nicht überlebt haben!
#FreePylos9
12/03/2025
[1]https://www.ombudsman.europa.eu/en/decision/en/182665&sa=D&source=docs&ust=1741173471977085&usg=AOvVaw1XrJUy6XhCclysTjsr-Gqd
[2] https://fragdenstaat.de/dokumente/233972-olaf-final-report-on-frontex/
[3] https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean
[4] https://www.europarl.europa.eu/cmsdata/238156/14072021%20Final%20Report%20FSWG_en.pdf
[5] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ALL/?uri=OJ:C_202500847
[6] https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=003-8124877-11378031&filename=Judgment%20A.R.E.%20v.%20Greece%20-%20%E2%80%9CPushback%E2%80%9D%20of%20Turkish%20national%20to%20T%C3%BCrkiye%20without%20examining%20risks%20she%20faced%20on%2